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Freitag, 14. Januar 2011

Afghanistan – Krieg ohne Ende!

aus: www.jugendzeitung.net

Die Veröffentlichung zehntausender teils geheimer Militärakten Ende Juli 2010 waren eine „Enthüllung der Ohnmacht“, wie die Tageszeitung „Die Welt“ titelte. Sie bestätigten abermals, dass der Guerillakrieg, den die westlichen Truppen gegen den afghanischen Widerstand führen, immer alptraumhaftere Züge annimmt. Kein Wunder also, dass man sich in den westlichen Hauptstädten die Köpfe darüber zerbricht, wie Afghanistan „erfolgreich“ stabilisiert – sprich: kontrolliert – werden kann.

Hierfür wird derzeit im Wesentlichen eine Doppelstrategie verfolgt. Einerseits erhöhte die NATO ihr Kontingent von ursprünglich 5.000 auf mittlerweile knapp 120.000 Soldaten – hinzu kommen noch etwa 20.000 Militärs unter alleinigem US-Kommando („Operation Enduring Freedom“). Mit dieser massiven Erhöhung der Militärpräsenz wird vor allem eins bezweckt: sie soll Zeit verschaffen, um das zweite Element der neuen Afghanistan-Strategie umzusetzen. Der afghanischen Regierung unter Präsident Hamid Karzai sollen in großem Umfang Repressionsapparate (Polizei und Armee) aufgebaut werden, um baldmöglichst große Teile der Kampfhandlungen weitgehend im Alleingang übernehmen zu können – und so die westlichen Truppen zu entlasten. Sehenden Auges wird dabei in Kauf genommen, dass das Land unweigerlich zu einem autoritären Militärstaat werden wird. Genau deshalb gibt Verteidigungsminister zu Guttenberg inzwischen auch an: „In Afghanistan eine Westminster-Demokratie nach westlichen Maßstäben herstellen zu können. Das ist schlichtweg eine Illusion.“

Auch wenn man sich mittlerweile also offen von allen „noblen“ Kriegszielen verabschiedet hat, bedeutet dies jedoch keineswegs, dass der Westen gewillt ist, sich vollständig aus Afghanistan zurückzuziehen – dafür steht dort einfach zuviel auf dem Spiel. Selbst wenn die Truppenzahl schrittweise verringert werden sollte, wie dies derzeit geplant ist, als „Nachsorgeelemente“ (zu Guttenberg) werden westliche Soldaten noch viele Jahre vor Ort verbleiben um sicherzustellen, dass sich die Geschicke des Landes in die richtige – pro-westliche – Richtung entwickeln.
Interessen: Lackmustest Afghanistan
In der Debatte über die Hintergründe des Afghanistan-Kriegs wird immer wieder auf geostrategische Interessen verwiesen: Tatsächlich existierten in Washington schon lange vor den Anschlägen des 11. September Pläne für eine bewaffnete Intervention, u.a. weil eine militärische Präsenz in unmittelbarer Nähe zu Russland sowie der angrenzenden ölreichen kaspischen Region angestrebt wurde. Zudem wird das westliche Interesse hervorgehoben, Afghanistan als alternative Transitroute zu erschließen, um die enormen kaspischen Energievorkommen unter Umgehung Russlands dem Weltmarkt zuführen zu können. Auch enorme Rohstoffvorkommen im Land selbst werden jüngst häufiger als Motiv genannt – obwohl bei deren Ausbeutung China momentan die Nase vorn hat.
Zweifellos spielten und spielen diese Überlegungen eine wichtige Rolle, allerdings dürften sie kaum als Erklärung für die immensen Summen genügen, die der Westen nun schon seit vielen Jahren in diesen Krieg hineinsteckt – allein die USA wird der Krieg 2010 etwa 100 Mrd. Dollar kosten. Hierfür muss ein weiteres Interesse berücksichtigt werden, das von Bundeskanzlerin Angela Merkel folgendermaßen formuliert wurde: „Ich glaube, sagen zu können [...], dass die Stabilisierung Afghanistans derzeit eine der größten Herausforderungen für die NATO und ihre Mitgliedstaaten ist. Sie ist gleichsam so etwas wie ein Lackmustest für ein erfolgreiches Krisenmanagement und für eine handlungsfähige NATO.“ Mit anderen Worten: Scheitert die NATO beim Versuch, Afghanistan unter Kontrolle zu bringen, hat sich jeglicher ähnlich gelagerte Versuch, dies in einem beliebigen anderen Land zu wiederholen auf absehbare Zeit erledigt.
Deutsche Salamitaktik
Für die deutsche Regierung stellt sich das Problem, dass sie zwar durchaus bereit ist, ihren Kriegsbeitrag zu erhöhen, sich aber einer Bevölkerung ausgesetzt sieht, die den Einsatz überwiegend ablehnt. Aus diesem Grund ist sie gezwungen schrittweise vorzugehen, um die Menschen in Deutschland sachte hieran zu „gewöhnen“. Der erste „Meilenstein“ war in diesem Zusammenhang die Anfang 2007 erfolgte Entscheidung, Bundeswehr-Tornados nach Afghanistan zu entsenden. Sie liefern Zieldaten, auf deren Grundlage anschließend Bombardierungen erfolgen, bei denen auch zahlreiche Zivilisten ums Leben kommen. Danach erfolgte die Übernahme der „Quick Reaction Force“ (QRF) durch die Bundeswehr am 30. Juni 2008. Bei ihr handelt es sich um 250 Soldaten, die im Norden und Westen Afghanistans eingesetzt werden und deren Aufgabe primär in der Bekämpfung Aufständischer besteht. Im Herbst 2008 wurde das Bundeswehr-Kontingent dann von 3.500 auf 4.500 Soldaten erhöht.
Im Sommer 2009 erfolgte eine weitere Brutalisierung des deutschen Einsatzes. So beteiligte sich die Bundeswehr mit 300 Soldaten an der Operation Adler, die von Mitte bis Ende Juli stattfand und bei der – erstmals seit 1945 – von deutscher Seite wieder schweres Gerät zum Einsatz kam (Mörser und Schützenpanzer). Nahezu zeitgleich wurden die Grenzen für den Gewalteinsatz, zusammengefasst auf der sog. „Taschenkarte“, erheblich gelockert und so ein deutlich offensiveres Vorgehen erlaubt. Schließlich wurde das Kontingentserhöhung im Februar 2010 nochmals aufgestockt – von 4.500 auf nunmehr 5.350 Soldaten. Damit steigen die offiziellen jährlichen Kosten des Einsatzes auf 1.059 Mrd. Euro – berücksichtigt man jedoch alle versteckten Kosten, so beläuft sich der jährliche Gesamtbetrag auf 2.5 bis 3 Mrd. Euro, wie das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ errechnete.
Pro-westlicher Militärstaat im Dauerbürgerkrieg
Das „Center for a New American Security“, eine Denkfabrik mit engsten Verbindungen zur US-Administration, veröffentlichte im Oktober 2009 ein Papier, in dem drei mögliche Zukunftsszenarien für Afghanistan präsentiert wurden. Unwahrscheinlich, aber möglich sei eine nachhaltige Stabilisierung des Landes ebenso wie der – aus westlicher Sicht – schlimmste Fall, ein Sieg der Widerstandsgruppen über die Karzai-Regierung. Vermutlich werde die Entwicklung aber in folgende Richtung gehen: „Die US-Regierung [wird] vorsichtig zu einer koordinierten Anti-Terror-Mission übergehen, bei der das alliierte Engagement sich auf das Training der afghanischen Armee, die Durchführung von Präzisionsangriffen aus der Luft und Spezialoperationen am Boden beschränkt. […] Dieses wahrscheinlichste Szenario erlaubt es den USA und ihren Verbündeten weiterhin Einfluss in Zentralasien auszuüben und eine vollständige Rückkehr der Taliban zu verhindern.“ Recht unverblümt wird zudem beschrieben, was ein solches Szenario für Afghanistan bedeuten würde: „Afghanistan bleibt im Bürgerkrieg zwischen der Regierung in Kabul, die im Wesentlichen von den Politikern und Warlords geführt wird, die das Land zwischen 1992 und 1996 befehligten, und einer entrechteten paschtunischen Gesellschaft im Süden und Osten gefangen.“
In dieser Konstellation stützt der Westen nun die spätestens seit den „Wahlen“ im Sommer 2009 vollkommen diskreditierte afghanische Regierung, indem er ihr die Repressionsapparate an die Hand gibt, um sich gegen den Widerstand in der eigenen Bevölkerung an der Macht halten zu können. Jüngst wurden die die Zielgrößen der vom Westen ausgebildeten afghanischen Armee auf 270.000 (ursprünglich 85.000) und die der Polizei auf 134.000 (ursprünglich 82.000) nach oben geschraubt. Im Klartext: über 400.000 „Sicherheitskräfte“ sollen künftig den Großteil der Drecksarbeit übernehmen. Während Kanzlerin Merkel dies eine „Übergabestrategie in Verantwortung“ nennt, kritisieren andere, wie Rory Stewart, Direktor des „Carr Center on Human Rights Policy“: „Wir kritisieren Entwicklungsländer dafür, wenn sie 30% ihres Budgets für Rüstung ausgeben; wir drängen Afghanistan dazu 500% seines Haushalts hierfür aufzuwenden. [...] Wir sollten kein Geburtshelfer eines autoritären Militärstaats sein. Die hieraus resultierenden Sicherheitsgewinne mögen unseren kurzfristigen Interessen dienen, aber nicht den langfristigen Interessen der Afghanen.“
Hauptsache, die Herrscher in Kabul bleiben weiterhin pro-westlich, alles andere scheint mittlerweile weitgehend egal zu sein. Ein Kommentar von Sven Hansen in der „taz“ fasste das folgendermaßen zusammen: „Das Maximum, das der Westen in Afghanistan noch erhoffen kann, ist, einen autoritären Potentaten zu hinterlassen, der, getreu dem US-amerikanischen Bonmot ‚Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn‘, die Regierung auf prowestlichem Kurs hält. Sicherheitspolitisch könnte das sogar funktionieren, weil dessen Terror sich dann ‚nur‘ gegen die eigene Bevölkerung und vielleicht noch gegen Nachbarstaaten, nicht aber gegen den Westen richtet.“
Ausplünderung, Eskalation und Guerillakrieg im Eigenbau
Den dramatisch zunehmenden Kampfhandlungen – sie haben sich zwischen 2006 und 2010 verzehnfacht – fallen mehr und mehr Zivilisten zum Opfer. Angaben der Vereinten Nationen zufolge kamen 2006 insgesamt 929, 2009 bereits 2.259 Zivilisten ums Leben. Die zahlreichen Zivilopfer sind eine der wesentlichen Ursachen für den Ansehensverlust des Westens und die Stärkung des Widerstandes. Die zweite ist der neoliberale Umbau, der Afghanistan unmittelbar nach Beginn der Besatzung von den westlichen Finanzinstitutionen verordnet wurde. Im Sommer 2009 zog Thomas Gebauer, Geschäftsführer von „medico international“, eine vernichtende Bilanz dieser „Wiederaufbaupolitik“: „Acht Jahre Intervention haben Afghanistan nicht aus der Armut geführt – im Gegenteil. Soziale Not und Arbeitslosigkeit greifen um sich, von Wiederaufbau kaum eine Spur: 4,5 Millionen Afghanen sind von Engpässen in der Nahrungsmittel- und Trinkwasserversorgung bedroht. Einer Million Kindern mangelt es an ausreichender Ernährung. Allein die Drogenwirtschaft floriert. Der Aufbau einer nachhaltigen Ökonomie ist den neoliberalen Vorgaben der Invasoren zum Opfer gefallen.“
Vor diesem Hintergrund ist es grob verkürzt, wenn diejenigen, die sich dem gewaltsamen Widerstand anschließen, pauschal mit den Taliban oder – noch absurder – mit Al-Kaida in einen Topf geworfen werden. Das US-Militär hat im Oktober 2009 eine Untersuchung, deren Ergebnis ein an der Abfassung beteiligter Geheimdienstoffizier so beschrieb: „Bei lediglich 10 Prozent der Aufständischen handelt es sich um Hardcore-Ideologen, die für die Taliban kämpfen.“ Auch der „International Council on Security and Development“ (ICOS), eine kanadische Denkfabrik, kommt auf Basis umfassender Feldforschung zu dem Ergebnis, der Widerstand setzte sich primär aus „armutsgetriebenen ‚Graswurzelgruppen‘“ zusammen: „Das Versagen der internationalen Gemeinschaft, den Bedürfnissen und Wünschen der afghanischen Bevölkerung ausreichend Aufmerksamkeit zu schenken und diese mittels einer effektiven Politik zu adressieren, ist ein Schlüsselaspekt für die wachsende Popularität des Aufstandes.“ In dieses Bild passen auch die Ergebnisse einer Umfrage von Oxfam vom November 2009: „70 Prozent der Befragten in Afghanistan nennen Armut und Arbeitslosigkeit als Hauptursache für den andauernden bewaffneten Konflikt in ihrem Land.“
Raus – sofort!
Angesichts der Katastrophe, die der Kriegseinsatz in Afghanistan hinterlassen hat, bleibt zu einem sofortigen Abzug keinerlei sinnvolle Alternative. Die westlichen Truppen sind Teil des Problems, nicht der Lösung. Mit am eindrucksvollsten setzt sich hierfür die afghanische Frauenrechtlerin Malalai Joya ein: „Mein Land wurde nicht befreit, es wird immer noch von den Warlords kontrolliert, und die NATO-Okkupation vergrößert nur deren Macht. [...] Dieses Blutvergießen muss nicht ewig weitergehen. Einige behaupten, wenn die ausländischen Truppen Afghanistan verließen, werde das Land in einen Bürgerkrieg stürzen. Ist das heute etwa kein Bürgerkrieg und keine Katastrophe? Je länger die Besetzung andauert, desto schlimmere Formen wird dieser Bürgerkrieg annehmen.“
Jürgen Wagner

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